Klimaziele verlangen bedürfnisgerechteren Bahnausbau

Ein Gastbeitrag von Kaspar Woker

Eine Ergänzung zu den Thesen von SwissRailvolution (GV 14.6.2023) und als Replik auf die «Grösste Verschlechterung aller Zeiten» beim Fahrplan 2035
(Tagesanzeiger 29.6.23)


«Eine langfristige Angebotsstrategie als Erfolgsfaktor» - nichts weniger als diese simple Marketingüberlegung fordert SwissRailvolution (SRV) 2023 für die Zukunft der Bahn in der Schweiz. Statt langjähriger ‘Betonorgien’ mit regionalem Nutzen, muss grossräumiger geplant werden, um den Modalsplit des öffentlichen Verkehrs signifikant zu erhöhen und – dies kann nicht genügend betont werden – dazu beitragen, die politisch festgesetzten Klimaziele der Schweiz zu erreichen.
 

Angebotskonzept und Redundanz
SRV denkt an ein dreistufiges Vorgehen. Zuerst müssen die Kundenbedürfnisse bekannt sein. Daraus folgt ein Angebotskonzept, welches diese Verkehrsströme aufnimmt, d.h. ein Netzfahrplan wird konzipiert. Und in dritter Linie werden die Ausbauten bestimmt. Dieses Vorgehen sei auch Grundlage für die Strategie Bahn 2000 gewesen. Damit ist letztmals der Modalsplit markant zu Gunsten des öV gestiegen. Bis heute ist die Verkehrsdichte auf der Schiene weiter gestiegen. Immerhin, der Modalsplit konnte trotz genereller Verkehrszunahme gehalten werden. Doch die Zuverlässigkeit des Bahnverkehrs wird ‘wackeliger’ denn je. Deshalb kommt der Redundanz des Schienennetzes als weiterer Komponente eine erhebliche Bedeutung zu. Die Vision Bahn 2050 der offiziellen Ausbaupolitik von Bund und Kantonen lässt solche notwendigen Rückfallebenen schmerzlich vermissen.

Bahn 2050 postuliert einen Tunnel Zürich Altstetten – bis Buchs vor Aarau. Das ergibt drei unabhängige Linien, je eine via Brugg, via Heitersberg sowie diesen Tunnel. Weiter via Aarau bis Olten stehen aber nur vier parallele Liniengleise zur Verfügung. Was, wenn diese oder der Bahnhof Olten unterbrochen sind? Die einspurige Strecke Lenzburg – Safenwil – Zofingen (dort mit Spitzkehre) bringt keine Redundanz. Dies tangiert nicht nur den Reiseverkehr, denn auch der gesamte Ost-West-Güterverkehr wird hier durchgeschleust. Ebenso benützen alle Transitgüterzüge ab Basel zum Lötschberg-Basistunnel die beiden Durchfahrtsachen des Bahnhofs Olten. Die Relation Basel – Bern kann theoretisch umfahren werden, durch den Jura via Biel. Einspurig, zu enge Tunnels und Spitzkehre in Delémont. Auch eine untaugliche Redundanz.
 

Das fatale Loch im Gleis
Fast schon staatspolitisch kritisch erwies sich 2022 dieser Unterbruch der Linie Lausanne – Genf als die Calvin-Stadt auf der Schiene noch mit Paris aber nicht mehr mit der Schweiz verbunden war. Weitere Beispiele im Schweizer Schienennetz sind leicht zu finden, nicht zu denken an die nur zweigleisige Anbindung von Luzern. Engere Signalabstände oder Dreispuren zwischen Siedlungen gepresst, bringen kaum Entlastungen.

Weitsichtig war im 19. Jahrhundert der Bau der beiden Achsen Olten – Lausanne via Bern und Biel, sowie im 20. Jahrhundert die NEAT mit den zwei Korridoren Gotthard und Lötschberg – Simplon. Doch an Olten kommen nur die Güterzüge der Gotthard-Linie vorbei, die anderen Verkehre kreuzen sich hier. Redundanz dank einer Neubaulinie brachte für die RhB der Bau des Vereina-Tunnels mit den beiden Portalen Richtung Unter- und Oberengadin. Mehr solcher ‘Tuyaux’ braucht das Normalspurnetz. Zusammen mit Neubaustrecken tragen Verbindungskurven zu Redundanz und neuen schnelleren Verbindungen bei. Man denke an Bern – Zofingen – Luzern oder Neuchâtel – Yverdon – Morges – Genf … Skandal: Der stündliche ICN Jurafuss – Genf wird ab Fahrplan 2025 wegen fehlender Kapazität Morges – Genf praktisch wegfallen … siehe oben!
 

Echte Neubaustrecken priorisieren
Dass den Kundenbedürfnissen nicht nur mit neuen Direktverbindungen im Freizeitverkehr, sondern auch mit deutlich höheren Reisegeschwindigkeiten entsprochen wird, scheint in der amtlich / politischen Bahnpolitik noch nicht angekommen zu sein. Auf die Prioritätenliste kommen sicher folgende Ausbauten als Neubaulinien, insofern Kundenbedürfnisse und Nachfrageströme sowie Notwendigkeiten für den konfliktfreien Bahnbetrieb breit erhoben würden, aber auch um die Reisezeiten (Knotenfahrzeit unter xx Minuten) zu kürzen.

Genf – Lausanne (<30’)
Liestal – Wisenberg-Tunnel – Olten und
Zürich-Altstetten – Roggwil (Anschluss an die Neubaustrecke bis vor Bern)
Die beiden Letzteren sind östlich von Olten im Dreieck als Umfahrung dieses Nadelöhrs zu verbinden was Fahrzeiten zwischen BS/ZH/BE von <45’ erlaubt.
Durchmesserlinie Luzern (DML) als Netzredundanz und Kapazitätsausbau
Vollausbau Zimmerberg II gemäss ursprünglichem Konzept
Sind diese beiden Ausbauten so aufeinander abgestimmt, dass ZH-LZ unter 30’ Fahrzeit ergeben? Nur dadurch ergeben sich in beiden Knoten gute Anschlüsse und ermöglichen damit, den Reisenden einen echten Nutzen aus den investierten Milliarden zu ziehen.
Lugano – Como plus durchgehende Vierspur bis Milano (<60’)
Winterthur – St.Gallen
Diese Investition muss einen deutlichen Fahrzeitgewinn erbringen, um den vollen Nutzen zu entfalten. (ZH – SG <60’). Wichtig ist ein dichter Takt der Anchlussbahnen. Die hier postulierten NBS sollen auch internationale Verbindungen attraktiver werden lassen. Fraglich bleibt dies in der Ostschweiz und Richtung München solange die kürzlich elektrifizierte Linie durchs Allgäu ein Nadelöhr bleibt.
     

Ein Blick über die Grenze
Ein Vergleich mit Spanien mag interessant sein. Die AVE-Linien ab Madrid nach Barcelona, Valencia, Alicante, Malaga/Sevilla wurden ab Mitte 80er Jahre geplant und realisiert. Sie sind alle in Betrieb. Gleichzeitig wurde der Ausbau des Corredor Mediterraneo beschlossen. Barcelona – Valencia – Alicante – Andalusien mit Ausbauten, dritter Schiene, Doppelspuren, Verbindungskurven, Elektrifizierung, etc. Seit 30 Jahren wird gebaut und nachgebessert, mit Kosten pro Kilometer um ein Mehrfaches der Neubaustrecken, noch lange nicht beendet und wirkliche Zeitersparnisse bringt nur die Fahrt via neue Linien. Nachzulesen in spanischen Medien jeglicher Provenienz. Schon für Madrid – Sevilla wurde auf Basis von Marktanalysen und Redundanz eine Neubaulinie statt des Ausbaus der Bestandesstrecke als zielführender erachtet. Ähnliches lässt sich zu den HGV-Linien in Frankreich und Italien sagen.

 

Autobahnausbau auf der Überholspur
Auch die kleinräumige Schweiz erträgt punkto Bahnausbau mehr Weitsicht, um mit einem weiterentwickelten, kundenbezogenen Angebotskonzept den öV-Modalsplit zu verbessern und den Klimazielen Nachdruck zu verhelfen. Dies ist ein Gebot der Stunde nachdem die Politik sechs und acht Spuren für die A1 aufgleist und vier Spuren durch den Gotthardtunnel aktuell wieder vehement gefordert werden. Automobile Kundenbedürfnisse mag dies befriedigen, Klimaziele adieu! Wo bleibt da die Bahn?

Das grösste Eigentor würde sich die Bahn mit ihrem milliardenschweren Ausbau schiessen, sollte die letzthin von BAV-Direktor Füglistaler lancierte Idee umgesetzt werden, internationale Verbindungen an der Grenze zu brechen und die Fahrgäste zum Umsteigen auf Binnenzüge zu zwingen. Mehr internationale Weitsicht, bitte sehr!

 

Kaspar P. Woker / 10.6.2023

Mehr Weitsicht im Bahnausbau – nicht nur in Zürich HB.

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